Globalisierung, Digitalisierung und Krisen verändern die Armutsrisiken. Deshalb ist die Politik in der Armutsbekämpfung auf eine solide Faktenlage angewiesen. Die Berner Fachhochschule hat gemeinsam mit Caritas Schweiz ein Modell entwickelt, das die Armutsbeobachtung im Land erheblich verbessern kann.
Armut in einem reichen Land wie der Schweiz? Laut offiziellen Statistiken leben in der Schweiz rund 660’000 Menschen in Armut. Diese erreichen das soziale Existenzminimum mit ihren Einkünften nicht. Die grosse Zahl der Betroffenen mag überraschen. Die Armut trägt allerdings verschiedene Gesichter: Von der Rentnerin mit knappen Einkünften über den jungen Langzeiterwerbslosen bis zur alleinerziehenden Mutter. Allen gemein sind die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten, die ihre Alltagsbewältigung und die gesellschaftliche Teilhabe erschweren. Damit armutsbetroffene Menschen die passende Unterstützung erhalten, ist eine systematische Beobachtung der Armutssituation ganz entscheidend.
Lückenhafte Armutsbeobachtung in der Schweiz
In der Schweiz existieren Erhebungen, anhand derer zu beobachten ist, wie sich die Anzahl an Armutsbetroffenen auf nationaler Ebene entwickelt. Das Bundesamt für Statistik publiziert regelmässig Indikatoren zur Armut. Auf diese Weise ist ein nationales Monitoring in Abstimmung mit den EU-Staaten möglich. Allerdings spielen in der Armutspolitik die Schweizer Kantone eine entscheidende Rolle. Deshalb können sich in der Armutsbekämpfung die Instrumente von Kanton zu Kanton stark unterscheiden. Einige Kantone erstellen Sozial- oder Armutsberichte. Die Berichterstattung erfolgt jedoch unregelmässig und die eigens konzipierten Indikatoren sind schwierig zu vergleichen. Andere Kantone fokussieren auf die bezogenen Sozialleistungen, vernachlässigen so jedoch, dass Armut breiter gefasst werden sollte. In gewissen Kantonen ist die Armutssituation gänzlich unbekannt. Diese Uneinheitlichkeit führt zu einem fragmentierten Bild, das eine zielgerichtete Armutspolitik erschwert. Im Parlament wurde diese unbefriedigende Situation erkannt. Der Bundesrat wurde aufgefordert ein regelmässiges Monitoring der Armutssituation unter Einbezug der föderalen Struktur der Schweiz zu etablieren.
Neue Möglichkeiten dank Digitalisierung
Die Möglichkeiten zur Armutsbeobachtung haben sich erheblich verbessert. Dank technologischen Fortschritten in der Datenverarbeitung können Administrativdaten seit kurzem auf fruchtbare Weise für die Armutsforschung genutzt werden. Eine wichtige Grundlage bilden Steuerdaten, die mit weiteren Administrativdaten zu bedarfsabhängigen Leistungen sowie mit Registerdaten zur Wohn- und Haushaltssituation verknüpft werden. Anhand dieser verknüpften Daten kann die finanzielle Situation der Bevölkerung detailliert und valide beschrieben werden. Da Administrativdaten im Rahmen der staatlichen Aufgaben laufend erstellt werden, sind diese unkompliziert für das Armutsmonitoring nutzbar. Allerdings muss bestimmt werden, welche Methoden und Konzepte zur Berechnung von steuerungsrelevanten Indikatoren verwendet werden. Diesbezüglich bietet der Modellvorschlag von Caritas Schweiz und der BFH Hand.
Modellvorschlag der BFH und Caritas Schweiz
Unter Einbezug des nationalen und internationalen Forschungsstandes haben die beiden Organisationen Grundlagen erarbeitet, die es den Kantonen vereinfachen ein systematisches Armutsmonitoring anzuwenden. Dank diesem können wichtige Kenntnisse zur kantonalen Situation gewonnen werden. Das Modell zeigt auf (vgl. interaktive Infografik), wie die verfügbaren Daten besser genutzt werden können.
Aus präventiver Sicht ist es wichtig, Armut nicht nur anhand etablierter Indikatoren, wie absolute Armut oder Bezug von Sozialleistungen, zu messen. Deshalb wird im Modell eine mehrperspektivische Betrachtung mittels fünf Basisindikatoren vorgeschlagen. Dabei ist entscheidend, dass die kantonalen wohlfahrtsstaatlichen Instrumente sowie die regionalen Eigenheiten hinsichtlich Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur bei der Analyse miteinbezogen werden.
Armutspolitik muss am Puls der gesellschaftlichen Entwicklung bleiben. Derzeit ist die Armutsbeobachtung in der Schweiz noch lückenhaft. Eine deutliche Verbesserung wäre jedoch erreichbar, wenn die Kantone bestehende Datenbanken einheitlich nutzen würden. Mithilfe des Modells der BFH und der Caritas kann erstmals ein flächendeckendes Armutsmonitoring erstellt werden, das der föderalistischen Struktur der Schweiz Rechnung trägt. Mit einem soliden Armutsmonitoring kann auch eine wirksamere Armutspolitik geschaffen werden.
Kontakt:
- Prof. Dr. Hümbelin, Dozent, Departement Soziale Arbeit
- Prof. Dr. Robert Fluder, Externe Fachperson, Departement Soziale Arbeit
Artikel und Berichte:
- Fluder, R., Hümbelin, O., Luchsinger, L., & Richard, T. (2020): Ein Armutsmonitoring für die Schweiz: Modellvorhaben am Beispiel des Kantons Bern. Bern: BFH.
- Zusammenfassung (dt)
- Zusammenfassung (fr)
- Empfehlungen der SODK zur Ausgestaltung von kantonalen Sozialberichten, 21. September 2012
Weiterführende Links:
- Inequalities – SNF-Projekte
- Armut und materielle Entbehrung, Bundesamt für Statistik
- Nationale Plattform gegen Armut
- Regelmässiges Monitoring der Armutssituation in der Schweiz, Das Schweizer Parlament
- Wirtschaftliche Situation von Personen im Erwerbs- und im Rentenalter (WiSiER), Bundesamt für Sozialversicherungen
1 Kommentare
Alexander Hunziker
Danke für diesen wichtigen Beitrag. –
Geringe Unterschiede in der Einkommensverteilung sind stark korreliert mit fast allem, was man sich von einer Gesellschaft wünscht, zum Beispiel geringe Kriminalitätsraten oder geringe Raten von Psychischen Störungen. – Durch diesen Zusammenhang profitieren wir als gesamte Gesellschaft, wenn wir bei Armut genau hinsehen und wirkungsvoll handeln.